"Das merkt man nicht!"
- sylviahatzl
- 10 ene 2023
- 4 Min. de lectura
"Hör nicht auf diese Diagnose, das glaube ich nicht!" “Du hast es gut überwunden!" – Andere Personen, sogar Fremde

Kurz vor Weihnachten habe ich eine liebe Freundin zu einem gemeinsamen Abend besucht, zu dem auch andere Personen kamen, die ich noch nicht kannte. Das ist an sich immer ein bißchen schwierig, neue Leute kennenlernen, aber ich bin auch neugierig, und da es ja Freunde dieser guten Freundin sind, bin ich durchaus aufgeschlossen und gehe erst einmal davon aus, daß es gewisse Gemeinsamkeiten gibt. Das hat bisher auch gut geklappt, weil sie mich inzwischen gut kennt und ein Gefühl dafür hat, mit wem und mit welcher Gruppe ich gut harmoniere oder harmonieren könnte.
Die Leute, die an diesem Abend also auch zu ihr kamen (es waren ja nur drei oder vier), waren auch durchaus angenehm, und mit zwei Frauen habe ich mich dann auch sehr gut unterhalten. Ein, zwei Stunden vielleicht haben wir geplaudert, die Jüngere der beiden hat hauptsächlich zugehört, und schließlich habe ich mich komfortabel genug gefühlt, zu sagen, daß ich Autist bin.
Die ältere Frau reagierte mit einem gewissen Schrecken: “Was? Wie? Aber du… du sprichst Fremdsprachen, du bist intelligent, wie du die Dinge verstehst und erklären kannst! Also, ich bin selbst auch Therapeutin, Gestalttherapeutin, also, nein, das kann nicht sein!”
Sie unterbrach sich kurz, stand auf und meinte dann in einem abschätzigen Ton: “Hör nicht auf diese Diagnose, das glaube ich nicht!”
Und zum ersten Mal wurde ich angesichts einer solchen Reaktion (derer es in den nicht ganz zwei Jahren, seit ich die Diagnose habe, unzählige gab) wütend. Ich wurde ernsthaft wütend.
“Oh nein! So nicht! Das nicht! Was soll das?!” erhob ich mich ebenfalls, ohne aber zu ihr zu gehen, die nun auf dem Weg zur Terrassentür war. Sie blieb stehen und sah mich erstaunt an. Auch die jüngere Frau war aufgestanden und sah mich nur an.
“Was erlaubst du dir?” warf ich der älteren an den Kopf. Zu meiner eigenen Überraschung blieb meine Stimme ruhig. “Wie völlig respektlos!”
“Nun, wie ich ja eben gesagt habe, ich bin Gestalttherapeutin und…” fing sie an, doch ich unterbrach sie: “Und deswegen glaubst du, dir ein Urteil erlauben zu können?!”
“Also…”, fing sie erneut an, “in meiner Arbeit als Gestalttherapeutin…”
“Das ist mir völlig egal!” unterbrach ich sie. “Das ist völlig egal!”
Nun herrschte ein Moment Schweigen. Beide sahen mich erschrocken an.
“Du hast keine Ahnung von Autismus, und mich kennst du keine zwei Stunden! Du hast nicht die geringste Vorstellung davon, was in mir vorgeht, wie mein Leben ist und war!”
Und um ein Beispiel zu geben, begann ich zu beschreiben, wie die Anfahrt zu unserer Gastgeberin mit Metro und Bus für mich gewesen war. Welche Maßnahmen ich zur Autoregulierung der Reizüberflutung ich auf diesem Weg hatte ergreifen müssen, welchen Aufwand an Energie das für mich bedeutet hatte – und immer bedeutet.
Die jüngere Frau war bestürzt. “Oh mein Gott, was für eine Arbeit!” entfuhr es ihr mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck.
Auch die Gestalttherapeutin war bestürzt.
Und sie lenkte total ein: “Ja, du hast recht!”
Sie senkte den Kopf.
“Wieder einmal habe ich mich nicht beherrschen können und einfach drauf los geredet und jemanden damit verletzt!”
Da wußte ich nichts drauf zu sagen.
“Du hast recht!” sagte sie noch einmal und sah mich wieder an. “Ja, ich weiß nichts über Autismus und schon gar nicht über dich und dein Leben… und wie anstrengend es sein muß!”
In dem Moment merkte ich, wie ich an eine innere Grenze kam. Die kleine Episode hatte mich zutiefst aufgewühlt – und das Erklären und Beschreiben der inneren Arbeit, die ich in solchen Situationen wie Metro und Bus etc. leisten muß, hatte mich seinerseits so viel Energie gekostet, daß ich mich plötzlich total erschöpft und ausgelaugt fühlte.
“Es tut mir leid!” sagte die Frau. “Ich entschuldige mich! Bitte nimm meine Entschuldigung an!”
Ich mußte mich setzen und konnte nur nicken. Ich war emotional völlig erschöpft. Die Jüngere lächelte mich nur an und schob die andere zur Terassentür hinaus.
Unsere Gastgeberin hatte von der kleinen Szene nichts mitbekommen, da sie hin und her rannte. Sie eilte immer wieder mal herein, lachte uns an, und eilte wieder hinaus.
Ich war nun allein am Tisch. Und brauchte das nun auch – alleine dasitzen.
Nach einer Weile hatte ich mich wieder soweit erholt, daß ich zu den anderen hinaus gehen konnte. Der Abend neigte sich, es wurde ein Feuer im Garten vorbereitet.
Den ganzen Abend und die halbe Nacht hindurch kam die gute Frau immer wieder zu mir her, um mir auszudrücken, wie leid es ihr täte… aber ich konnte einfach nicht direkt wieder so offen sein, wie bei unserer Plauderei ganz am Anfang. Auch war das Zusammensein mit der Gruppe an sich eine enorme Reizbelastung, sodaß ich zu nicht mehr viel Interaktion fähig war. Ich war durchaus in der Lage, wenigstens freundliche Worte zurückzugeben und einen gewissen Grad an “Ist schon alles okay!” zu wahren. Und schließlich ließ sie mich in Ruhe.
Aber ich merkte etwas in mir, für das ich keine Worte hatte. Die habe ich auch jetzt noch nicht. Der Gedanke an diese Situation und diese Frau macht mich nicht mehr wütend, nein, und ich bin ihr auch nicht beleidigt, oder so etwas. Wirklich nicht.
Aber ich merke, daß ich auch keine weiteren Plaudereien mit ihr möchte.
Ich weiß nicht, wie man das nennt. Aber es fühlt sich richtig an.
Es ist SO anstrengend, sich (dauernd) rechtfertigen zu müssen – und dann auch noch die emotionale Arbeit eines Gegenübers mitmachen zu müssen, das sich dann scheiße fühlt und um Vergebung fast bettelt! Und ich bin nicht nur müde und erschöpft, ich bin es auch leid, ich bin es wirklich leid!! Ja, ich bin voller Mitgefühl, das ist nicht etwas, das ich einfach abstellen kann.
Und ich bin ein hochempathischer Mensch. Extrem empathisch, hat meine Therapeutin das letztes Mal genannt, und ohne, daß es mir auch nur ansatzweise bewußt ist, lade ich die Menschen ein, sich zu öffnen und abzuladen.
Aber ich kann nicht mehr.
Wie sie damit den Nagel auf den Kopf trifft!!! Sogar mit Therapeuten ist das mehr als einmal vorgekommen, und von meiner Kindheit und manchen Erwachsenen damals will ich gar nicht erst anfangen.
Und ich mag nicht mehr.
Und ich muß auch nicht mehr. Niemand muß das, und wir müssen uns dafür auch nicht schlecht oder gar schuldig fühlen.
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