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Entwickle so viel Mut, dass du für dich selbst eintreten kannst, ...

  • Foto del escritor: sylviahatzl
    sylviahatzl
  • 27 feb 2023
  • 8 Min. de lectura

... und dann tritt für jemand anders ein. – Maya Angelou



Eine gute alte Bekannte in München hat vor ein paar Tagen in ihrem Facebook einen kleinen Artikel über Egoismus geschrieben, der mir ein paar Einsichten ausgelöst hat, und zwar darüber, warum autistische Menschen von anderen oft als eben egoistisch, narzissistisch und anti-sozial bis hin zu gefühl- und empathielos wahrgenommen werden.


Ihre Definition von Egoismus ist wie folgt: es handelt sich um einen schwachen Charakter. Ein egoistischer Mensch ist jemand, der nicht nur zuerst an sich denkt, sondern auch nur an sich denkt, der die anderen gar nicht wahrnimmt, und wenn doch, wieder wegschaut. Oft ist auch eine gehörige Portion Zynismus dabei, und Zynismus ist kaputt gegangener Idealismus. Das ist meine Definition.


Wenn nun aber ich als autistischer Mensch mit dieser unsichtbaren Behinderung (und es gibt Situationen und Momente, da sind meine neuronalen und sensorialen Besonderheiten *be-hindernd*) mich zum Beispiel mit einer Freundin in einem Café treffe… und die Musik, die aus den Lautsprechern plärrt, trifft meine Ohren wie Schläge…


Die Freundin ist Mutter dreier Kinder, das jüngste erst drei Jahre alt, es geht seit kurzem in den Kindergarten. Die Freundin ist entsprechend ausgelastet und manchmal auch überlastet. Sie freut sich, endlich mal wieder ohne Kinder in ein Café zu gehen und zu reden.


Ich freue mich auch auf sie, wie immer – aber die Musik schlägt auf meine Ohren ein, und der Impuls pflanzt sich fort, fast wie elektrische Hiebe am ganzen Körper fühlt es sich an…


Entsprechend bin ich angespannt und zucke herum, und bei der ersten Gelegenheit bitte ich eine Bedienung, bitte die Lautstärke herunterzufahren.


Dann sitze ich da und warte. Es passiert nichts. Die Freundin fängt an, zu reden… rein physikalisch findet zwar das statt, was als Hören bezeichnet wird, aber ich kann nicht aufnehmen, was sie sagt (dies ist etwas, das bei autistischen Menschen häufig vorkommt, man nennt es auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (https://de.wikipedia.org/wiki/Auditive_Verarbeitungs-_und_Wahrnehmungsstörungen), etwas, das, wie ich jetzt verstehe, zu einem sehr großen Teil dazu beigetragen hat, daß ich als Kind in der Schule unsäglich leiden mußte. Mit meiner Therapeutin passiert es mir fast regelmäßig, daß ich sie bitten muß, etwas zu wiederholen… Stellen Sie es sich so vor, liebe Leserin: in manchen Situationen ist meine auditive Wahrnehmung und Verarbeitung im Gehirn ungefähr so, wie für Sie, wenn Sie vom Boden aus beobachten, wie ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht…). Gleichzeitig prasselt aus der Musikbox jeder Takt, jede Note, jedes Auf und Ab der Stimme eines Sängers, jedes Instrument, jedes Hintergrundinstrument, jede Zweit- und begleitende Melodie, jeder Wechsel in Melodie und Rhythmus auf mich ein, wie heftigster tropischer Regen, dazu noch andere Menschen im Innenbereich, die sich ebenfalls unterhalten…


Ich kann meiner Freundin nicht die Aufmerksamkeit geben, die ich ihr geben will, und die ihr zusteht. Ich versuche, ihr zu erklären, daß mir die Musik zu laut ist, daß es einfach nicht geht. Warum machen die die Musik nicht endlich leiser? Sie fängt an, die Mitarbeiter zu verteidigen, sie habe diese Arbeit auch einmal gemacht, man könne nicht immer gleich springen. Das verstehe ich, und ich versuche ein ums andere Mal, zu vermitteln, daß ich nervlich-körperlich nicht in der Lage bin, die mir zu laute Musik auszuhalten, ich möchte nach draußen, da sind mehrere Plätze frei.


Aber meine Freundin weigert sich und meint, ich solle dies als Gelegenheit sehen, Gleichmut unter schwierigen Umständen zu üben.


Mir wird die Musik mit jedem Atemzug zu viel. Ich kann nicht gleichzeitig diese beiden Dinge tun, die Musik auf mich einprasseln haben und dabei mit meiner Freundin sein und reden, zumal unsere Gespräche sich nie nur um oberflächliche Angelegenheiten drehen. Ich merke, wie mein Nervensystem und ganzer Körper eine Stressreaktion entwickeln, die eine altbekannte, jahrzehntelang geübte und praktizierte: da mir “Flight” nicht möglich ist, nicht ermöglicht wird, deutet sich “Fight” an… Wut.


Ich stehe abrupt auf und gehe zum Tresen hinüber, da ich die Musik aus dieser Richtung verorte (Irrtum, wie sich wenige Minuten später herausstellt), und sage zu der jungen Frau, bitte die Musik leiser zu machen. Ich merke selbst, daß ich einen scharfen Ton an mir habe. Sie nickt nur – aber die Lärmquelle ist eben nicht bei ihr, sondern am anderen Ende des Raumes, wie meine Freundin mir sagt, als ich mich wieder zu ihr setze. Ich sage noch einmal, daß ich nach draußen möchte, wieder bewegt sie sich nicht.


Erneut versuche ich, zu erklären, was mit mir geschieht. Ich gebe eine allseits bekannte schmerzliche Form des Berührens als Beispiel, und frage, wie sie sich damit fühlen würde. Sie zuckt nur die Schultern und sagt mit gleichmütiger Miene, daß sie für sich dies als Übung in Gleichmut verstehen würde. Und im nächsten Moment bringt sie auch noch einen Vergleich mit ihrer dreijährigen Tochter an, die, wie in diesem Alter üblich, häufiger mal bockige Momente hat.


Es ist schwer, zu beschreiben, wie ich mich in diesem Moment gefühlt habe. Dieser liebe und wichtige Mensch versteht mich nicht. Will mich nicht verstehen. War es mehr Wut? War es mehr schockierte Verzweiflung? Irgendwann war Wut da und ich mußte mich wegdrehen, ich war kurz davor, aufzustehen und zu gehen. Es muß etwa zu diesem Zeitpunkt gewesen sein, daß die Musik tatsächlich etwas leiser wurde. Und aus Liebe zu meiner lieben Freundin geschah in dem Moment etwas… plötzlich fand ich mich in der Lage, oder geschah es irgendwie automatisch?… Ich habe, oder es wurde ein Mechanismus wieder angeworfen, den ich erst ein paar Tage später identifizieren konnte, weil er mir SO geläufig war… mein ganzes Leben hatte ich so gelebt…


Der Überlebens-Mechanismus.


Alles herunterfahren, Zähne zusammenbeißen und durch, irgendwie wird es schon gehen, irgendwie muß es gehen – und irgendwie geht es. In diesem Zustand ist nichts anderes mehr möglich, jede Kreativität stirbt, bevor sie sich überhaupt melden könnte, auch ein positiver Geisteszustand ist nicht (mehr) möglich und oft nicht einmal mehr Meditation, Yoga oder auch Sport. Nichts geht mehr.


Da sie mittags wieder zuhause sein mußte, weil das mittlere Kind von der Schule heim kam, sind wir um diese Zeit wieder gegangen und ich bin ebenfalls nach Hause.


Den ganzen Nachmittag war ich völlig fertig, mal hab ich geheult, mal war ich wegen der geringsten Kleinigkeit irritiert… wußte nicht, was ich wollte… alles war mir zu viel, vor allem ich selbst. Ich war irgendwie ganz außer mir. Um kurz nach zehn Uhr bin ich ins Bett gefallen und habe bis acht Uhr früh durchgeschlafen. Am Vormittag hat sich ganz langsam das emotionale Gleichgewicht wieder eingestellt, und damit das mentale Gleichgewicht. Der Vortag hat mich pausenlos beschäftigt. Ich war nicht unbedingt verärgert, ich war durcheinander: diese Freundin ist ein Mensch, den ich bis zu dem Moment als “sicher” eingestuft hatte. Ich war verletzt, und vor allem verunsichert. Was mehr kann ich tun, als zu erklären, was ich brauche? Und meine Freunde, meine engen Freunde… wenn sie nicht meine “sicheren” Menschen sein können oder wollen… wie muß ich dann Freundschaft definieren? Mit dieser Person oder diesen Personen, und ganz allgemein?


Ich hatte am Nachmittag erneut eine Verabredung mit einer anderen Freundin, da bin ich über eine halbe Stunde früher los, um das Lokal auszuchecken. Es lag in einer ruhigen Seitenstraße, im Innenbereich auch wieder gut laute Musik, also habe ich mich gleich draußen hingesetzt. Ein paar Autos ab und an vorbei, ein paar Leute, das ist kein Problem.


Insgesamt hat es ein paar Tage gedauert, bis ich wieder ganz emotional und damit mental im Gleichgewicht war, und da habe ich dann auch verstanden, daß eben dies “in meinem früheren Leben” so gut wie nie der Fall gewesen war. Daß ich immer im “Survival Mode” gewesen war – und täglich “Wutausbrüche” hatte, und/oder “Depressionsattacken”… Heute ist mir klar, daß dies Meltdowns und autistische Burnouts waren. Die etwa zwei Jahre seit der Diagnose hat das Leben mir die Möglichkeit gegeben, mich fast total zurückziehen und eine friedliche und sichere Ruhe kennenzulernen und zu erleben, die ich früher nie gekannt hatte. Dadurch habe ich ebendieses emotionale Gleichgewicht finden können, das die Grundlage für allgemein mentales Gleichgewicht bildet.


Warum erzähle ich diese Episode so detailliert? Zum einen, um auf das Thema Egoismus Bezug zu nehmen. Meine Freundin konnte und wollte in dem Moment nicht verstehen und auch nicht nachvollziehen, was ich wollte und brauchte. Es ist sogar gut möglich, daß sie aufgrund ihrer eigenen Erschöpfung mich eben als egoistisch wahrgenommen hat.


Und ich kann mir lebhaft vorstellen, daß genau solche Konstellationen und Szenarios ein ums andere Mal im Leben autistischer Menschen vorkommen. Ich weiß, in meinem Fall ist es so: was habe ich mir als Kind und Teenager von meiner Mutter anhören müssen, wie egoistisch ich sei.


Aber sich um seine Bedürfnisse zu kümmern, das ist nicht egoistisch. Im hier beschriebenen Beispiel wollte ich ja eine gute Zeit mit meiner Freundin verbringen, ihr zuhören und für sie da sein…


… ohne mich dabei selbst zu mißachten und zu überfordern, und das ist der zweite Grund, warum ich diese kleine Geschichte so haarklein erzähle. Liebe Leserin, lieber Leser: bitte hören Sie dem Autisten in Ihrem Leben zu! Auch und gerade, wenn er oder sie jemand ist, der wenig beeinträchtigt scheint. Das scheint Ihnen eben vielleicht nur so. Bitte reden Sie richtig viel miteinander, bleiben Sie stets in Kommunikation! Die Beeinträchtigung ist da, sie ist real, ich merke es gerade wieder einmal überdeutlich, seit ich vor kurzem wieder angefangen habe, ab und zu auszugehen: auf kleine kulturelle Veranstaltungen, etwa Konzerte oder Literaturlesungen u.ä. von und für (lesbische) Frauen. Man kommt so relativ leicht ins Gespräch. Es verlangt mir aber einiges an mentaler Vorbereitung ab, und dann bin ich zum einen im Kopf ununterbrochen damit beschäftigt, das Miteinander der Frauen zu beobachten und zu versuchen, zu decodifizieren und zu identifizieren (es kann schonmal einen Tag und auch mehr dauern, bis mir klar wird, daß jemand mich heftig angeflirtet hat!)… und zum anderen habe ich ja “die Maske auf”, sozusagen, denn ich sage natürlich erstmal kein Sterbenswörtchen von Autismus! Und ich muß auch ständig mit mir selber einchecken, wie ich mich fühle und wie es mir geht… um möglichst nicht erst mit komplett leerer Batterie dann zu gehen, sondern schon etwas davor, damit ich eben nicht dann erst tagelang wieder aufladen muß, denn das ist etwas, das ich erst vor kurzem gelernt habe, und immer noch lerne, bzw. praktizieren muß. Ich kann nicht einfach klar definieren, wie es mir geht, wie ich mich fühle. Eine Person, die mir einmal sehr wichtig war, hat dies recht geschickt gelöst: sie hat mir eine Art “Ankreuz-Fragen” gegeben, also mich gefragt: “Fühlst du dich wütend?” “Nein.” “Fühlst du dich traurig?” “Nein.” Und so konnten sie und ich eines nach dem anderen ausschließen, bis ich am Ende “Ja” sagen konnte. Das mache ich seither mit mir selbst, wenn ich in der Öffentlichkeit bin, natürlich nur im Kopf.


In diesem Sinne, liebe Leserin, lieber Leser, gestehen Sie dem Autisten in Ihrem Leben, den Sie lieben, als Freund, Partner, Kind, sonstwie, “das kleine Extra” bitte zu! Mit Hund, Katze, Pferd können wir es ja auch. Er oder sie wird es merken, das kann ich Ihnen versichern, und es Ihnen so sehr danken, mit all seiner/ihrer Freundschaft, Liebe, Loyalität!


Und meine liebe Freundin?… Ich glaube, sie hat dann schon verstanden, daß sie mir viel abverlangt hatte. Zu viel. Am folgenden Tag hat sie mir eine Nachricht geschickt, in der sie mir eine sehr schöne Meditation spricht. Und ich nehme diese Episode sehr wohl als etwas, um daraus eine Lehre zu ziehen: auch (und vielleicht gerade!) gegenüber lieben Menschen müssen wir manchmal sagen: “(Halt! Bis hierhin und nicht weiter!) Ich setze mich jetzt an den Tisch draußen, und ich hoffe, du kommst mit!” Vor allem suche nächstes Mal ich das Lokal aus und gehe auch schon eher hin, um die Lage auszuchecken und vorzusorgen.

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