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Für alles, was sich lohnt, muss man den Preis zahlen;

  • Foto del escritor: sylviahatzl
    sylviahatzl
  • 30 jul 2022
  • 5 Min. de lectura

und der Preis ist immer Arbeit, Geduld, Liebe, Selbstaufopferung. – John Burroughs


Wenn man als Erwachsener die Diagnose Autismus bekommt, steht man praktisch alleine da. Autismus ist immer noch eine “Kinderkrankheit”, und entsprechend sieht es mit dem Netzwerk und der Versorgung aus, ganz zu schweigen von der Wahrnehmung des Umfelds. Heute habe ich in der Broschüre eines Reiseveranstalters gelesen, daß Mesa in Arizona, USA, eine “Autismus-zertifizierte” Stadt/Region ist. Personen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, etwa Polizisten, Krankenpfleger, Busfahrer, sowie Mitarbeiter der Tourismus-Branche haben ein Training erhalten, wie man mit Autismus umgeht (https://www.visitmesa.com/autism-travel/).


Das finde ich auf der einen Seite eine schöne Sache… auf der anderen Seite finde ich es auch übertrieben und, ehrlich gesagt, traurig. Auch ein bißchen erschreckend. Wieviele Trainings brauchen wir noch, um mit “nicht-normierten” Menschen freundlich umgehen zu können? Und kein Mensch ist normiert, niemand ist wie eine gen-gezüchtete Gurke…! Und wieviele kleine und immer kleinere Subgruppen und Sub-Diagnosen brauchen wir noch, um uns anerkannt und gewürdigt und gesehen zu fühlen? Nicht selten habe ich das Gefühl, daß dies alles mehr einfach nur Trend ist, denn eine wirkliche “Öffnung der Gesellschaft”. Und ein zehnjähriger blonder nicht einmal jüdischer Junge aus einer gutverdienenden Familie, der mit 25 Jahren vielleicht Ingenieur geworden ist, wird als “die Norm” definiert und hingestellt – aber wie geht es ihm damit, wenn er sucht und sucht und immer nur feststellt, daß er total normal ist, aber “normal” inzwischen als langweilig und unattraktiv gilt? Und nicht selten habe ich es erlebt, daß so ein junger Mann unverhohlen ausgelacht wird, wenn er von Problemen spricht und vielleicht eine Therapie machen möchte, oder zu einem Heiler oder einer Heilerin gehen möchte. Seit einigen Jahren hat sich das Bild sehr verändert, mit immer mehr individuellen Menschen auf der Suche nach diesem einen Ding, das sie zum Außenseiter macht und ihr Leid erklärt und für das sie sich “besonders” fühlen dürfen. Das ist vor allem ein erschütterndes Zeugnis für die moderne Gesellschaft, die alles und alle normiert und nicht nur jeden Apfel, sondern auch jedes Kind, das auch nur ein bißchen von der Norm abweicht, sofort pathologisiert. Es gibt aber einen Unterschied zwischen “normal” im Sinne von “der Norm entsprechend”, und durchschnittlich, gewöhnlich. Meine Schwester hatte es sehr treffend formuliert: “Nun ja, ich bin verheiratet, habe zwei Kinder und einen Halbtagsjob… Ich möchte jetzt nicht sagen, daß ich normal bin, das bin ich ganz sicher nicht, aber ganz gewöhnlicher Durchschnitt. Und das paßt auch so.”


Genau. Das paßt auch so.


Ein gewöhnliches Leben, ein langweiliges Leben ist nicht nur völlig in Ordnung, ich finde das sogar erstrebenswert. Und wer nun denkt, ha, ja, die Sylvia reist ihr Leben lang in der Weltgeschichte herum, da ist doch nichts langweilig!


Irrtum! Mein tägliches Leben ist ausgesprochen langweilig. Gelegentlich mal das eine oder andere Problem, mal größer, mal kleiner… oder eine schöne Sache wie ein Wochenendbesuch bei Freunden… aber ansonsten auch ein tägliches Einerlei. Das bietet mir aber den Raum für innere Arbeit, innere Entwicklung. Das, was als “spirituelles Leben” bezeichnet wird, erfordert eine gewisse äußere Langeweile. Einen gewissen Alltagstrott. Nur so können wir innerlich zur Ruhe kommen, und ich kann aufgrund dieser meiner persönlichen Erfahrung sagen, daß diese innere Ruhe die Grundvoraussetzung nicht nur für ein glückliches Leben ist, sondern auch für diese innere Heilarbeit, oder einen “spirituellen Weg”. Beides hängt tief miteinander zusammen!


Aber wir leben in einer hektischen und in kleine Stückchen zerteilten Welt, die all zu oft auch für ganz gewöhnliche Menschen ein täglicher Kampf ist.


Und wer als Erwachsener die Diagnose Autismus nach dem 25. Lebensjahr bekommt, steht wirklich auf sehr einsamem Posten. Selbst wenn es im Umfeld Angebote gibt, sind sie meist auf Kinder beschränkt, manchmal noch auf Jugendliche. Als Erwachsener bekommt man (vielleicht!) eine “Autismus-Therapie” angeboten, in der man dann jemandem gegenüber sitzt, der letztlich denkt, er oder sie könne (und müsse!) dieselbe Schablone, die er (sie) bei Kindern und Jugendlichen anlegt, auch bei jemandem anwenden, der vielleicht schon 40 Jahre sich ganz allein durch’s Leben wurschtelt, wie auch immer “erfolgreich” oder “langweilig” oder nicht. Gut, ich hatte so eine Autismus-Therapie auch gebraucht, um zu begreifen, daß mein Problem nicht der Autismus ist, sondern das emotionale und psychologische Trauma, das daher rührt, daß nie jemand mich verstanden hat, daß man immer versucht hat, mich “umzubauen”, weil ich irgendwie “falsch” war, und vor allem mir immer die Schuld gegeben hat.


Aber ich muß schon sagen, ein bißchen bestürzt es mich schon, daß noch keiner der “Autismus-Experten” auf diesen Gedanken gekommen ist? Erst unlängst mußte ich wieder einer erfahrenen und auch wirklich sehr guten Fachkraft sagen, mir doch bitte mit der Idee von Kinderbüchern zum guten sozialen Umgang vom Leibe zu bleiben, weil ich mein ganzes Leben lang maskiert und geschauspielert habe, mal durchaus umwerfend erfolgreich, mal auch komplett versagt, und daß ich erstens einfach nicht mehr kann, und zweitens auch nicht mehr mag. Ich bin es leid – und ich bin zu alt dafür, mich bei einem Spiel mit zehn fremden Leuten hinzusetzen und mir um jeden Preis die Namen und ein Hobby zu merken… Ah, nein! Ich bin jetzt 55 Jahre alt. Ich muß das nicht mehr tun. Wenn es mir wichtig ist, dann kann ich schon noch die Schauspielermaske hervorholen und ein Weilchen das ahnungslose Publikum begeistern, aber ansonsten… ist mir meine Zeit zu schade.


Als Erwachsener steht man also sehr alleine da, wenn man die Diagnose Autismus erhält. Wer etwa in meinem Alter ist, wird vielleicht auch feststellen, daß es Traumata zu behandeln gibt… oder, daß es einfach nur schön ist, jemanden zu haben, mit dem man so die Dinge besprechen kann, und der einen versteht und dann coacht. So wie ich gerade. Therapeut und Coach in einem. Das ist schon wirklich eine feine Sache!


Auf Dauer reißt das allerdings ein nicht unbeachtliches Loch in den Geldbeutel!… In Deutschland wird Therapie zwar von der Versicherung übernommen, aber sämtliche Therapeuten des Landes sind über Jahre hinweg ausgebucht. In Mexiko und den meisten anderen Ländern auf der Welt muß man aus eigener Tasche bezahlen.


Und irgendwann ist eine Therapie ja auch einmal zu Ende. Und dann?


Es gibt in Facebook eine deutschsprachige Gruppe für Personen, die als Erwachsene mit Autismus diagnostiziert wurden, sowie deren Angehörige und Partner. Es ist eine der angenehmsten Gruppen überhaupt in Facebook, und natürlich auch deswegen angenehm, weil “wir unter uns sind”, also viele, wenn sie ein Thema eröffnen, halbe Romane schreiben… oder viele emotionales und anderes Feedback geben können zu bestimmten Dingen und Erfahrungen… ganz zu schweigen von der intelligenten und klaren und immer direkten Kommunikation…


Aber das ist auch so ziemlich alles, was ich bei meiner Suche/Recherche gefunden habe. Im spanischsprachigen Raum ist die Ausbeute noch geringer, zumal der Umstand dazu kommt, daß die meisten Facebook-Gruppen einfach kein besonders angenehmes oder gar bereicherndes Umfeld sind.


Es fehlen Ressourcen. Und wenn nicht wir erwachsenen Autisten selbst solche auf die Beine stellen, wird es niemand anders für uns tun. Vor allem müssen wir, meine ich, ganz allumfassend, damit aufhören, das “Sehr-anders-Sein” als etwas entweder Tolles oder Ablehnenswertes hinzustellen. Es ist etwas sehr narzissistisches, andere entweder auf ein Podest zu stellen und sie (geradezu) anzubeten, oder sie in den Straßengraben zu stoßen, und unsere ganze Gesellschaft funktioniert so, und nicht erst seit dem Aufkommen der sozialen Medien, wenngleich selbige das in ein Extrem heben.

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