Integrität ist die Gesamtheit Ihrer selbst; es ist das, was Sie wirklich sind, ...
- sylviahatzl
- 9 ene 2023
- 3 Min. de lectura
... nicht das, was Sie über sich selbst glauben oder was Sie vorgeben zu sein. – Dr. Miguel Ruiz

Seit einiger Zeit wird viel von “Identität” gesprochen, und wie jemand sich identifiziert, oder als wer oder was. Unlängst las ich, daß jemand sich als Autist identifiziert, also die Person sprach nicht von sich als Autist, oder als jemand mit Autismus, sondern daß sie sich als autistisch identifiziere.
Ich sehe hier zwei unterschiedliche Dinge.
In meinen Augen wird hier etwas verzerrt, das nicht nur auf individueller Ebene sondern auch gesellschaftlich fatal sein kann. Schauen wir uns “Identität” etwas näher an.
Identität ist nicht viel mehr als eine Idee, die angeblich auf realen Fakten beruht. Zum Beispiel, jemand, der heute 20 Jahre alt ist, identifiziert sich als Peruaner, weil er dort geboren und aufgewachsen ist und seine ganze Familie aus Peru stammt. Dann geht er nach Norwegen studieren, findet das Leben dort toll, begegnet einem Partner und heiratet, mit 40 Jahren nimmt er die norwegische Staatsbürgerschaft an und identifiziert sich fortan als Norweger. Genauso funktioniert es auch mit Religion.
Diese Identität ist, was soziale und kulturelle Konditionierung uns über uns einreden. Oft genug hat das nichts oder nur wenig mit der biologischen und/oder neurobiologischen Realität zu tun. Ein Kind chinesischer Eltern, das von einem australischen oder vielleicht französischen oder vielleicht chilenischen Ehepaar adoptiert wird, wird mit dieser Identität aufwachsen, biologisch gesehen ist er oder sie aber Chinese.
Identität ist eine sozio-kulturelle Frage, auch eine philosophische.
Autismus aber ist eine neurologische und neurobiologische Realität. Da liegt der Unterschied, und das darf man nicht durcheinander bringen, das kann auch Schaden anrichten.
Ganz davon abgesehen, daß in der heutigen Zeit aller Wert auf “Identität” gelegt wird, und nicht auf reale Lebensumstände. Anstatt tatsächlich greifbarer gesellschaftlicher Themen wird das Konzept “Identität” in die Diskussion gebracht, und das geht an den eigentlichen Themen vorbei.
Das ist aber nur eine Definition von Identität, und man muß bei dem Thema genau differenzieren.
Die “andere” Identität läßt sich zu einem großen Teil in biometrischen Daten erfassen, ist also eher biologisch/medizinisch. Fingerabdruck, Genetik, Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft, sozio-kulturelle Herkunft, Lebenslauf (Beruf und privat)… Einige dieser Faktoren sind unveränderlich, andere ändern sich, oder können sich ändern.
Und dann gibt es eben Vorstellungen zur Identität, und auch Definitionen, die damit nicht mehr viel zu tun haben. Unlängst las ich von einem Mann in Norwegen, mittleren Alters, körperlich nachweisbar gesund – der sich aber als “behinderte Frau identifiziert”. Und er lebt sein Leben in einem Rollstuhl und sagt jedem steif und fest, daß er von der Hüfte abwärts nichts empfindet und sich nicht bewegen kann. Ungeachtet der Tatsache, daß entsprechende Tests das Gegenteil ergeben.
Eine Definition von Identität in diesem Sinne ist ein enormes psychologisches Problem, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Auch muß man unbedingt festhalten, daß die Neurobiologie des Menschen grundsätzlich sehr wohl für alle gleich ist – weil wir ja alle zu ein und derselben Spezies Homo sapiens sapiens gehören. Tut man das nicht, öffnet man (erneut!) Tür und Tor für Rassismus und andere intellektuelle destruktive Richtungen, und da muß man sehr vorsichtig sein (man kann ja sehen, wohin angebliche “Wissenschaft” im 19. Jahrhundert geführt hat!).
Daneben hat natürlich das soziale und kulturelle Umfeld einen prägenden Einfluß auf jeden Menschen und seine Neurobiologie. In diesem Sinne unterscheidet sich jedes einzelne Individuum vom anderen, auch Geschwistern, die in der selben Familie aufwachsen. Das ist aber mehr psychologisch, oder vielleicht besser neuropsychologisch.
Daher müssen wir, wenn wir von Identität sprechen, exakter formulieren. In manchen westlichen Ländern sind wir schon soweit, daß die Identität, die ein Individuum sich selbst zuschreibt, mehr gilt, als seine oder ihre eigentliche Realität (siehe jener Mann in Norwegen). Das halte ich für ein gesellschaftliches und gesellschaftspolitisches Problem enormen Ausmaßes, dessen Konsequenzen wir wahrscheinlich erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wirklich sehen und hoffentlich begreifen werden.
Autismus als neurobiologische (individuelle) Realität ist natürlich etwas, das die Identität einer Person formt oder formen kann. Es muß aber nicht, und braucht auch nicht zwingend. Es gibt genügend Autisten, die das nicht wissen, nicht einmal ansatzweise drauf kommen, aber zufriedene und erfüllte Leben führen.
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