Wir müssen uns weniger darum kümmern, ob unsere Kinder akademisch begabt sind, sondern ...
- sylviahatzl 
- 6 nov 2022
- 4 Min. de lectura
... mehr darum, ob sie sich zu dem einsamen Kind in der Cafeteria setzen. – Valerie Williams

Es ist wirklich bestürzend und ernüchternd, immer wieder auf Geisteshaltungen und Einstellungen zu treffen, die Autismus als Krankheit, eine Katastrophe und etwas absolut Ablehnenswertes wahrnehmen und dementsprechend beschreiben und bewerten. Eltern, die so verbittert darüber sind, daß ihre 16jährige Tochter nicht nur nicht spricht, sondern tagtäglich Hilfe und Unterstützung braucht, daß sie zum einen alles, wirklich alles aufsaugen, das auch nur halbwegs wissenschaftlich gekleidet daherkommt und Geschichten davon erzählt, wie Ernährung, Bakterien, Antibiotika und nicht zuletzt natürlich Impfungen Autismus wenn schon nicht verursachen, so doch “zum Ausbruch” bringen und “verschlimmern”. Da wird fröhlich Genetik mit Epigenetik nicht nur verwechselt, sondern in einen Topf geworfen, und dann behauptet, man sähe es ja jeden Tag im eigenen Haus.
Sehbehinderungen sind auch oft genetisch. Das heißt aber nicht, daß zwingend alle Kinder einer Familie eine Brille brauchen. Ich brauchte eine solche ab der Grundschule (ich war sechs Jahre alt), ich hatte das von meinem Vater geerbt, meine Schwester, die die selben Eltern mit mir teilt und auch im selben Haushalt aufgewachsen ist, das selbe gegessen hat, die selben Familienfeiern mitgemacht hat, brauchte ihr Leben lang keine Brille. Erst mit der Altersweitsichtigkeit muß sie seit einiger Zeit eine zum Lesen benutzen. 
Von Familien mit einem hellhäutigen europäischen und einem dunkelhäutigen afrikanischen Elternteil wissen wir, daß unter, sagen wir, fünf Geschwistern ein Kind so hellhäutig wie die Mutter oder der Vater sein kann – oder auch so dunkelhäutig, oder eben braun. Die Hautfarbe wird nicht durch die Ernährung und andere epigenetische Einflüsse bestimmt, und ebensowenig ist die Genetik etwas, das quasi in Stein gemeißelt zwingend und ohne Ausnahme das Leben eines Menschen bestimmt. Die genetischen Vorgaben sind ein Kann, aber kein Muß. Genau diese Denkweise hat zu Kastensystemen, Rassismus und Faschismus geführt, mit der Argumentation, daß der Apfel nie weit vom Stamm falle und ein Arbeiterkind eben ein Arbeiterkind sei. Das ist aber falsch. Heute weiß man, daß epigenetische Einflüsse durchaus eine enorme Auswirkung haben – das heißt nun aber auch wieder nicht, daß durch eine veränderte Umwelt das zartgliedrige braunhäutige Kind aus Indien ein großer, kräftiger schwedischer Ruderer wird oder werden könnte. Bei dieser Argumentation wird völlig vergessen oder schlicht ignoriert, daß sich gewisse ethnische Unterschiede über Jahrtausende und unzählige Generationen hinweg entwickelt haben (und nein, dazu gehören weder die Hautfarbe noch die Augen- oer Kopfform, sondern solch wirklich wichtigen Dinge wie die Fähigkeit, rohes Essen (besser) verdauen zu können; Enzyme im Magen, die Milch verarbeiten können oder das Fehlen derselben; und wie ein Körper generell ausgerüstet ist für ein bestimmtes Klima, sei es tropisch oder arktisch).
Aber weil Autismus als eine Störung im Gehirn angesehen wird, glaubt man, “dagegen vorgehen” zu können (und zu müssen!). 
Weiters lehnen solche Eltern in ihrer Bitterkeit alles ab, was von dem abweicht, das sie selbst erleben. Mit wenig verheimlichter Verachtung und Ablehnung wird jenen begegnet, deren Autismus sich anders zeigt, und die womöglich als Erwachsene unabhängig leben (können). Frei nach dem Motto: “Wenn du dich ausdrücken kannst, kannst du nicht autistisch sein.” 
Autismus ist genauso individuell wie der Fingerabdruck, danke, und es ist schon ziemlich frech, von erwachsenen “Autisten” in Anführungszeichen zu sprechen, um nur ein jüngstes Beispiel zu erwähnen. 
Autismus ist keine Krankheit. Aber er kann sich sehr wohl “behindernd” äußern, in gewissen Situationen und Umständen, für die einen mehr, für die anderen weniger, in manchen Situationen mehr, in anderen weniger… Das ist von Individuum zu Individuum verschieden. Und natürlich können andere Herausforderungen dazu kommen, mental, intellektuell, körperlich… 
Aber nur, weil ich eine Brille brauche, der man meine Sehstärke nicht ansieht, und weil jemand anders dagegen eine Brille braucht, die so dick ist, daß man kaum mehr das Gesicht erkennen kann, heißt das nicht, daß nicht beide Personen eine Sehbehinderung haben. 
Ich selbst habe in meinem Leben mehrmals den Kontinent gewechselt, das Klima, und die damit einhergehenden Umwelteinflüsse. Ich habe als Kind und Teenager viel Fleisch gegessen, dann gar keines mehr, dann wieder etwas mehr, dann wieder weniger. Ich habe ernährungstechnisch so einiges ausprobiert, schon allein aufgrund meiner Lebensumstände. Eine zeitlang habe ich sehr viel Sport gemacht, eine zeitlang überhaupt keinen; eine zeitlang habe ich viel meditiert und Yoga gemacht, eine zeitlang nichts davon.
Und nicht, nichts, NICHTS davon hatte auch nur einen minimalen Einfluß darauf, wie ich die Welt wahrnehme! Und Autismus ist eine Form der Wahrnehmung und Reizverarbeitung.
Das einzige, was ich beeinflussen kann, ist, wie ich damit umgehe, emotional und mental, und auch kognitiv. Wenn ich in Selbstanklagen und Selbstablehnung versinke, dann hat das natürlich einen enormen Einfluß auf mein psychisches und physisches Wohlergehen. Je mehr ich lerne, mich selbst anzunehmen, mir zu verzeihen und mir selbst mit Geduld und Güte zu begegnen, desto mehr gebe ich mir das, was ich brauche, und das wiederum führt zu einer verbesserten Lebensqualität und weniger Anlaß zu so typisch autistischen Dingen wie sensorischer Überforderung und daraus resutierenden Meltdowns und/oder Shutdowns. 
Und nicht erst seit psychologischen Studien und Forschungen wissen wir, daß ein Kind, das sich liebevoll angenommen fühlt, eine ebensolche Selbstwahrnehmung entwickelt – und wenn es von vorneherein abgelehnt wird, dies eben zu Selbstablehnung führt, und damit zu einer, ja, schier endlosen Reihe von mentalen und psychischen und physischen Problemen.
Liebe Eltern, ich weiß, es kann herausfordernd sein, manchmal auch extrem. Aber bitte: nehmen Sie Ihr Kind an, so wie es ist! Es ist ja nicht so, daß es sich das ausgesucht hat, um Ihnen vielleicht “eine reinzuwürgen”! Vertrauen Sie auf und praktizieren Sie Liebe und Mitgefühl, gerade, wenn alles völlig hoffnungslos scheint. Das Leben ist nicht “fair”, für niemanden. Aber ich kann Ihnen aus ureigenster immer wieder erlebter persönlicher Erfahrung versichern: wenn es etwas gibt, das Wunder wirken kann, dann ist das Liebe und Mitgefühl.



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